Ein Vierteljahrhundert z’Alp
Aita Largiadèr
Wenngleich die landläufige Vorstellung manchmal eine andere ist: Die Arbeit auf der Alp ist kein Zuckerschlecken. Denn immerhin ist Salz ein ziemlich bestimmendes Element. Weil der Schweiss bisweilen in Strömen rinnt. Oder der Käse damit eingeschmiert wird und ja, geht es nach den Kühen, dann frönen sie dem Salzschlecken ausgesprochen gerne. Zurück zum Zucker: Der Sommer in den Bergen mit traumhaften Sonnenuntergängen, Ruhe fern vom Grossstadttrubel, Nähe zur Natur, Arbeit mit Tieren und einfachem Leben ist nur die eine – unbestritten schöne – Seite der Medaille. Getrübt wird das Bild des romantischen Älpler-Daseins von 14-Stunden-Arbeitstagen ohne Wochenenden, Unwettern, Sorgen um kranke Tiere und körperlich hoher Belastung. Doch was ist es, das Aita und ihren Partner Berni bereits seit einem Vierteljahrhundert dennoch jeden Sommer gerne zurück auf «ihre» Alp Prasüra im Val Müstair zurückkehren lässt?
Morgenstund’ hat Gold im Mund…
…und viel Arbeit parat. Denn schon um 3.30 Uhr – es ist selbst im Hochsommer noch stockfinster – ist für Aita Tagwache. Das ergibt im besten Fall sechs Stunden Schlaf, meist weniger. Von da an sitzt jeder Handgriff, sind alle Abläufe eingespielt und auf die Minute getaktet. Geht etwas schief, kommt der ganze Tagesablauf ins Wanken. Man könnte fast annehmen, der Taktfahrplan wurde ursprünglich z’Alp erfunden. Die Holzöfen für Warmwasser und Dampf müssen beheizt werden, die Milch abgerahmt und langsam im Kessel aufgewärmt, das Butterfass in Betrieb genommen und der Käse vom Vortag gewogen und im Käsekeller eingelagert werden. Ebenso gilt es, die Kulturen für die Käse-, Butter- und Joghurtproduktion vorzubereiten.
Währenddessen sind Älpler Berni und Hund Marc auf den umliegenden Wiesen unterwegs, um das Vieh zurück zur Alp zu treiben. Anfangs beansprucht das Einstallen mehr Zeit, nach einigen Wochen wissen die meisten Kühe, wo ihr Platz im Stall ist. So geht es dann ganz ruhig zu und her: ein Tier nach dem anderen wird von Berni, Aita und ihren beiden Mitarbeiterinnen Marianne und Marianne an seinen Platz geführt. Die älteren Damen unter den Kühen, längst schon alperprobt, finden ihren von allein. Erst wenn alle Kühe versorgt sind, gibt es auch für die Menschen eine kleine Pause. Es ist jetzt 5.30 Uhr – Zeit fürs Frühstück.
Ein geschlossener Kreislauf
Als Sennin ist Aita für die Sennerei und damit für die Verarbeitung der Milch zu Käse, Butter und Joghurt zuständig. Doch, bevor es so weit ist, geht’s ans Melken der rund 50 Kühe. Eine Arbeit, die Aita besonders gerne macht: «Mich fasziniert die Gutmütigkeit und Ruhe, die diese grossen Tiere ausstrahlen. Trotz der Schellen, die sie tragen, gibt es Momente, wo es ganz ruhig ist im Stall.» Das Melken morgens und abends dauert rund 1.5 Stunden, wobei die Menge Milch, die gemolken wird, gegen Ende der Alpsaison rückläufig ist. Beim Melken werden die Tiere auch auf ihre Gesundheit kontrolliert.
«Wenn man da nicht achtsam ist, hat das nicht nur negative Folgen fürs Tierwohl, sondern kann unter Umständen sogar dazu führen, dass ganze Tagesproduktionen Milch und Käse ungeniessbar werden.
Geht es den Kühen gut, ist auch die Milchqualität gut», ist die Älplerin überzeugt. Für sie ist es wichtig, dass sie die Milch vor Ort verarbeitet und nicht etwa an eine Käserei abliefert. So arbeitet man auf der Alp Prasüra in einem kleinen geschlossenen Ökosystem, wo man am Ende des Tages auch etwas in den Händen hält: Milch, Joghurt, Butter und natürlich Käse.
Schweisstreibende Käseproduktion
Um 7.30 Uhr beginnt die Arbeit in der Sennerei. Die Sauerrahmbutter wird von Hand zu 500 g Modeln geformt, während daneben die Milch im Kessel mit Dampf aufgeheizt wird. Sobald die Milchsäurebakterien mit dem Lab bei rund 32° hinzugefügt werden, dickt die Milch. Sie wird nun mit der Käseharfe zerschnitten, sodass sogenannter Bruch (feine Körner) entsteht. Diese Körner werden kontinuierlich gerührt, bis die gewünschte Temperatur erreicht ist. Mit einem grossen Tuch erfolgt dann der Einzelauszug, d.h. die Käsemasse wird aus dem Kessel gehoben und in die vorbereiteten Formen gepresst. Ein schweisstreibendes und anstrengendes Unterfangen, das viel Übung erfordert und nicht nur Hand- sondern sogar Kieferarbeit ist!
Bei einer konstanten Temperatur und hoher Luftfeuchtigkeit reift der Käse anschliessend im Keller und wird von nun an alle 1-2 Tage gewendet, geschmiert und gepflegt. Rund 3–3.5 Tonnen Käse und 300–350 kg Butter produziert Aita mit ihrem Team pro Saison. Ein kleiner Teil davon wird direkt «über d’Gass’» an Wanderer verkauft, der Rest wird anteilsmässig an die Bauern – gleichzeitig auch Aitas und Bernis Arbeitgeber – verteilt.
Nichts ist so konstant wie der Wandel
Auch das Älplerleben im Val Müstair war in den letzten Jahren einem grossen Wandel unterzogen: Während zu Beginn noch Vieh von rund 10 heimischen Bauern auf der Alp Prasüra war, sind es heute nur noch eine Handvoll. Der Strukturwandel macht auch auf 2'100 m ü.M. keine Pause. Unterm Strich sind es zwar ähnlich viele Tiere, die Kühe sind heute aber deutlich grösser, geben mehr Milch und fressen entsprechend mehr.
Gleichzeitig sind auch die Hygienestandards enorm gestiegen: «Wenn du nicht gerne putzt, bist du auf einer Alp fehl am Platz», lacht Aita schelmisch. Und tatsächlich: ist sie nicht gerade mit Melken und Käseverarbeitung beschäftigt, schrubbt die lebensfrohe Frau fleissig Böden, reinigt das Milchgeschirr und putzt die eingesetzten Werkzeuge. Dies ist essenziell, um zu verhindern, dass sich Keime einschleichen und die Qualität leidet.
Grosse Belastung
«Körperlich ist so ein Alpsommer eine Grenzerfahrung. Natürlich erleichtert mir die Routine nach so vielen Jahren vieles. Dennoch merke ich, dass ich älter werde und mir die Frage stelle, ob ich das in den nächsten 10–15 Jahren noch packe», sinniert Aita. Doch das ist nicht alles: Im Sommer bringt ihr ihre Arbeit als Älplerin viele Sympathien ein. Umso trauriger stimmt sie, wie herausfordernd es ist, für die verbleibenden 8-9 Monate eine Anstellung zu finden. Der «Älplerstatus» ist nur schwierig mit einem «geregelten Leben» vereinbar. Hier wünscht sich Aita mehr Unterstützung und Flexibilität der Gesellschaft, damit dieses für alpine und landwirtschaftlich geprägte Regionen wie das Val Müstair so wichtige Kulturgut nicht verloren geht.
Abschied und Dankbarkeit
Wenn Anfang Juni die Vorbereitungen für das Leben auf der Alp beginnen, ist dies geprägt von Vorfreude und einer gewissen Anspannung: Wie wird der Sommer? Während rund 90 Tagen leben Aita, Berni und ihre 1-2 Mitarbeitenden ganz im Rhythmus der Natur, «zügeln» mit all ihren Tieren von der Unteralp Marangun hinauf zur Alp Prasüra und wieder zurück. Neben den Kühen sind auch einige Mastschweine sowie ein prächtiger Hahn und seine Hennen mit von der Partie.
Mitte September ist er dann da: der Alpabzug. Und damit auch der Tag des Abschieds, an dem die Tiere aufwändig geschmückt hinunter ins Tal nach Sta. Maria geführt werden. «Der Alpabzug ist jedes Jahr aufs Neue ein sentimentaler Tag für mich. Ich bin dankbar, wenn alles gut gegangen ist und freue mich über die Zeit, die ich auf der Alp verbringen durfte. Der Abschied von den Tieren fällt mir dabei immer schwer», erzählt Aita. Und wie schon beim ersten Mal wächst gleichzeitig das Gefühl, dass dies nicht der letzte Sommer gewesen sein soll.