Auf militärhistorischen Wegen zum kleinen «Machu Picchu»
Henri Duvoisin
Kampf um den Monte Scorluzzo
Es ist ein Husarenstück der österreichischen Truppen. Mit nur 29 Mann erobern Sie den 3'094 Meter hohen Monte Scorluzzo und vertreiben die Italiener zurück ins Valle del Braulio. Wir befinden uns im Ersten Weltkrieg und schreiben den 4. Juni 1915. Italien hat Österreich-Ungarn vor Kurzem den Krieg erklärt und den Scorluzzo besetzt. Die Kriegsfront verläuft quer durch die Südalpen, und es herrscht ein wahnwitziger Stellungskrieg mitten im Hochgebirge.
Mit dem PostAuto zum Stilfserjoch
Heute, mehr als 100 Jahre später, kann man den Kampf um den Scorluzzo auf einer Bergwanderung nachempfinden. Wir treffen Henri Duvoisin um Viertel nach Sieben bei der Post in Sta. Maria. Das PostAuto bringt uns via Umbrail in 45 Minuten auf das 2'757 Meter hoch gelegene Stilfserjoch, wo uns ein kühles Lüftchen begrüsst. Menschen mit Skiern auf den Schultern laufen über den Parkplatz, um mit der Gondelbahn ins Sommerskigebiet auf dem Stelviogletscher zu fahren. Doch unser Ziel ist der gegenüberliegende Monte Scorluzzo.
«Wie konnten die Soldaten das bloss aushalten?»
Wir lassen die schroffe Landschaft und die nahen Gletscher auf uns wirken und folgen den auffälligen Wegmarkierungen in rot-grün-weiss. Im Rahmen eines Interreg-Projektes wurden vier militärhistorische Wanderwege gesichert, markiert und mit über 40 Schautafeln ausgestattet, welche die damalige Kriegslage im Gebiet Umbrail und Stilfserjoch erläutern. «Das Ziel ist, die hier auffindbaren Spuren des Ersten Weltkrieges zu bewahren, zu dokumentieren und zugänglich zu machen», sagt Henri. Seit zwölf Jahren leitet er Touren zu den verschiedenen Kriegsschauplätzen und hat sich ein breites historisches Wissen angeeignet. «Mich interessiert vor allem das Leben der Soldaten. Ich frage mich: Wie hielten sie das bloss aus? Wie konnten sie trotz widrigsten Umständen so bedingungslos gehorchen und fürs Vaterland kämpfen?»
Der Plan einer Grossoffensive
Als wir den Gipfel erreichen zeigt uns Henri eine Höhle und Kochnische. «Hier wurde geschlafen, gekocht und Wache gehalten. Doch die Männer waren keine wirklichen Soldaten, sondern einfache Leute mit miserabler Ausrüstung, zum Teil hatten sie bloss Schuhe aus Stroh.» Mit unseren Goretex-Jacken und Vibram-Sohlen können wir uns nicht vorstellen, wie sowas möglich gewesen ist. «Von den Österreichern findet man nur wenige Spuren, da sie keine grösseren Bauwerke errichteten. Sie harrten einfach im Freien aus, tagtäglich und auch bei minus 30 Grad», erklärt Henri. Ganz anders die Italiener. Die Truppen bestanden aus hervorragend ausgebildeten Gebirgsjägern – den Alpini. Und sie betrieben einen enormen Aufwand, um den Scorluzzo zurückzuerobern. Auf dem Südwestkamm, dem Filone del Mot (2'899 m ü. M.), bauten sie ein ganzes Dorf, das Platz für eine komplette Kompanie bieten sollte. Von dort planten die Alpini eine Grossoffensive, um den Berg zu stürmen.
Leichtes Ziel für die Österreicher
Das Alpini-Dorf ist sehr gut erhalten und heute unter dem Namen «Italienischer Machu Picchu» bekannt, da es dem Inka-Dorf in Peru verblüffend ähnlich sieht. Und es ist unser nächstes Ziel. Wir steigen über den steilen Südgrat hinab, der Weg ist ausgesetzt und erfordert Schwindelfreiheit und Trittsicherheit. Bald erreichen wir die erste Befestigungsanlage der Italiener, ein solide gemauertes Bauwerk. Weiter als hier kamen die Alpini nicht, sie waren ein zu leichtes Ziel für die Österreicher, die einfach hinunterschiessen konnten.
Vom Kriegsende überrascht
Nun verläuft der Weg flach und wir können die Aussicht geniessen. Linkerhand schwarze und mächtige Felswände, vereinzelt mit einem Gletscher gekrönt. Rechterhand eine Hochebene in sattem Grün, dazwischen glitzernde Bäche und kleine Seen. Wir laufen durch Schützengräben und immer wieder begegnen uns Überreste der italienischen Kriegsbauten. Schliesslich erreichen wir das Alpini-Dorf. Geometrisch exakt angelegte Häuserreihen besetzen den schmalen Bergkamm – historische Architektur mitten in den Bergen. «Es scheint, dass die Italiener vom Kriegsende überrascht wurden. Denn sie bereiteten alles so vor, um über eine längere Zeit hier bleiben zu können.»
Kampf im ewigen Eis
Während dem Picknick weist Henri auf einen vergletscherten Gipfel, den Monte Cristallo (3'434 m ü. M.). Auch dieser Berg war heftig umkämpft. Die Österreicher und Italiener gruben kilometerlange Stollen durch das Gletschereis, um Richtung Gipfel vorzudringen und den Gegner überraschen zu können. Um Stollen im Eis zu graben, ging man lediglich mit Pickel, Bohrmeissel und Schaufeln vor, da Sprengstoff im Eis völlig ungeeignet ist. Unvorstellbar! Doch zahlreiche historische Aufnahmen, die im Museum 14/18 in Sta. Maria zu sehen sind, zeugen davon.
Glück im Unglück
Vom Alpini-Dorf führt der Wanderweg in die Hochebene «Piano di Scorluzzo» hinunter. Wir erfreuen uns am üppigen Grün und dem Wollgras, das die Bäche wie Schneeflocken umsäumt. Nun ist es nicht mehr weit bis zur Passtrasse des Umbrail. Bevor wir diese erreichen, zeigt uns Henri einen Stollen und Materialbunker der Italiener. Auffällig ist – wie Henri bemerkt – dass die Kanonenluken exakt in Richtung Schweiz ausgerichtet sind. Zum Glück haben die Österreicher auf dem Monte Scorluzzo durchgehalten.