Geschichte. Kultur. Sprache.
Marco Gilly
Chasa Jaura – ein Ort der Begegnung
Marco Gilly nimmt sich Zeit, bevor er spricht. Er denkt nach und wählt seine Worte sorgfältig.
Identität benötigt Bewusstsein. Junge Menschen blicken nicht oft zurück. Das kommt erst später. Wenn es soweit ist, braucht es die Auseinandersetzung, die Diskussion über kulturelle Werte. Ein Museum kann dazu beitragen, sich mit der eigenen, kulturellen Identität zu befassen.
Die Chasa Jaura ist jedoch mehr als ein Museum. Sie ist ein Ort der Begegnung. Die Kultur des Tals, die Lebensweise der Menschen, die noch vor wenigen Jahrzehnten hauptsächlich in der Landwirtschaft tätig waren, wird auf authentische Weise zugänglich gemacht. So erhalten die Museumsbesucher des denkmalgeschützten Bauernhauses in der Stube, die aus dem 16. Jahrhundert stammt, oder der Küche eine klare Vorstellung darüber, wie die Menschen im Val Müstair einst gelebt haben.
In einem vielfältigen und hochstehenden Kulturprogramm hingegen können Einheimische wie Gäste sich mit zeitgenössischen Kunstausstellungen auseinandersetzen und bei Abendveranstaltungen Konzerte geniessen sowie in Lesungen eintauchen.
Als Präsident der Chasa Jaura kümmert sich Marco Gilly um alle möglichen Anliegen. Er sucht in Zusammenarbeit mit Robert Grossmann, dem Direktor des Kulturprogramms, nach neuen Angeboten, organisiert finanzielle Mittel für den Betrieb, die wiederkehrenden Renovationsarbeiten sowie zur allgemeinen Unterstützung der Chasa Jaura. Er betreibt Kulturpolitik im Zusammenspiel mit dem Kanton, dem Amt für Kultur, weiteren Partnern vor Ort und kümmert sich schliesslich auch darum, dass der Rasen gemäht wird.
Senda da las linguas - für die romanische Sprache
Pella lingua rumantscha. Nur noch rund 60’000 Menschen sprechen Rätoromanisch, eine Sprache, die sich aus dem Latein gebildet hat. Rund 15 v. Chr. wurde von den Römern die Provinz Rätien gegründet, ein Gebiet zwischen den Rätischen Alpen und der Donau. Das von ihnen gesprochene Latein vermischte sich im Laufe der Zeit mit den regionalen Sprachen und so entstand das Rätoromanisch, das bis heute im Val Müstair und in weiteren Teilen Graubündens als vierte Landessprache der Schweiz verwendet wird. Fünf regionale Varianten, sogenannte Idiome, haben sich daraus gebildet. Im Unterengadin und Val Müstair wird «Vallader» gesprochen. Die Menschen im Münstertal verleihen mit der Mundart «Jauer» dem Idiom noch ihren eigenen Charme.
Am 8. Juli 2023 wird während einer Vernissage in der Chasa Jaura feierlich der neue Audio-Themenweg «Senda da las linguas» eröffnet, der zusammen mit der Biosfera Val Müstair ausgearbeitet worden ist. Marco Gilly begrüsst als Präsident das Publikum.
Heute geht es um Kultur, Sprache und Identität, eine Bedeutung des jungen Umgangs mit Sprache. Es ist offensichtlich, dass der «Senda da las linguas» die Kraft der Identität und das Selbstvertrauen auf leichte Art und Weise zeigt.
Der neue Erlebnisweg verläuft idyllisch auf einer kurzen, landschaftlich sehr reizvollen Rundwanderung, mit vielen Panoramablicken auf das Tal, um das Museum in Valchava. 11 Hörstationen geben Einblick in die romanische Sprache, der näheren Umgebung mit ihren Flurnamen und bringen auf kunstvolle Art und Weise, unter dem Einbezug von Lyrik und mit musikalischen Elementen, dem Besucher die sprachliche Kultur des Val Müstair näher. Die Audiodateien können ganz einfach mit einem Smartphone an jeder Station angehört werden. Zusätzlich zeigt die App «Hearonymus» den Verlauf der Strecke an und beinhaltet gleichzeitig auch noch eine Führung durch die Chasa Jaura.
In Einsatz für Menschen
Im Kontrast zum harmonisch wirkenden Val Müstair steht ein früherer Lebensabschnitt von Marco Gilly. Viele Jahre stand der studierte Geologe im Einsatz für das Kinderhilfswerk UNICEF (United Nations International Children’s Emergency Fund), der Flüchtlingshilfe UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) sowie der Schweizerischen «Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA)» .
Als Berater für Wasser und Abwasserentsorgung setzte er unter anderem Strategien und Projekte für besseren Zugang zu Trinkwasser in den ländlichen Gebieten Guineas um und koordinierte den Zugang zu Wasser in Flüchtlingslagern im östlichen Tschad.
Besonders die Zeit in Guinea hat Marco Gilly sehr geprägt. Sein damaliges Büro hat sich in einem Gebäude am Atlantik befunden. Die schwierigen Lebensbedingungen der Menschen vor Ort haben ihm zu denken gegeben. Das Wasser stand manchmal kniehoch auf den Strassen und alles war in einen dichten Nebel gehüllt.
Man hat keine Sonne und Sterne gesehen. Mir war bewusst, wie wichtig Licht ist.
Lebensqualität
Umso mehr schätzt Marco Gilly die Ruhe und Landschaft im Val Müstair. Alles ist sehr nah beieinander. Im Gegensatz zu grossen Agglomerationen muss man nicht kilometerweit gehen, um in die Natur zu gelangen und diese geniessen zu können.
Der Stress entfällt im Val Müstair.
Abschalten kann er auch bei der Arbeit im Garten, der zur «Chasa Gallas» in Tschierv gehört. Das historische Haus ist seit Generationen im Besitz der Familie. Vor über 10 Jahren wurde das Gebäude auf sanfte Art und Weise renoviert. Beim damaligen Abbruch hat Marco Gilly immer wieder Fundstücke wie Schriftstücke entdeckt. Was haben die Leute gemacht, die vorher in diesem Haus gewohnt haben? Was waren ihre Herausforderungen? Gerne möchte er die Geschichte der «Chasa Gallas» niederschreiben. Denn Verwurzelung, Geschichte und Identität sind wichtig. Es sind die Kerninteressen von Marco Gilly.
Text & Bilder: Dominik Täuber.
Video: On Air AG